04 Dezember 2017

Mittagessen mit Möwen

Eigentlich wollten wir nur etwas trinken, aber weil alle Menschen im Außenbereich der »Auberge Express« ein Essen vor sich stehen hatten, bestellten wir auch etwas. Das Restaurant bot das, was es in der ganzen Normandie an jeder Straßenecke zu essen gab: Crèpes und Galettes – die Crèpes gab es nur als Süßigkeit, weshalb ich eine Portion Galette mit Käse bestellte.

Während wir auf das Essen warteten, ließen wir uns den Kaffee schmecken. In Étretat war bisher nicht die Hochsaison ausgebrochen, dafür hielt sich das Wetter zurück; die Sonne schien, aber die Temperaturen blieben gedämpft.

Trotzdem füllten sich die Straßen von Stunde zu Stunde mehr. Reisebusse hielten am Rand der Innenstadt und spuckten Pulks von Touristen aus.

Wir genossen es, hinter der hölzernen Begrenzung zu sitzen und dem Getümmel auf der Straße zuzuschauen. Der »alte Markt« auf der anderen Straßenseite, längst zu einem Fachgeschäft für allerlei Touristenkram geworden, wurde im Minutentakt von Reisegruppen betreten und wieder verlassen.

Die Möwen hatten ebenfalls ihre Freude an den vielen Touristen. Kreischend und krächzend flogen die Vögel durch die Straßen, teilweise in einer Höhe von vielleicht eineinhalb Metern. Respekt vor Menschen kannten sie offenbar keinen.

Am Nachbartisch standen zwei Gäste auf und gingen, sie hatten kurz zuvor bezahlt. Keine fünf Sekunden vergingen, dann landete schon die erste Möwe auf dem Tisch, pickte im Teller nach Essensresten. Ich stand auf und scheuchte das Tier weg; das brauchte ich wirklich nicht.

Dann kam unser Essen. Die Galette war nicht schlecht, den Käse hatte man allerdings in derart dicken Packungen auf den Teig gelegt, dass ich mir sicher war, hinterher einen kräftigen Verdauungsschnaps zu benötigen. Ich ließ es mir dennoch schmecken, wachte mit Argusaugen über unsere Teller – um im Notfall die Möwen abwehren zu können.

Zwei Tische weiter saßen ebenfalls zwei Leute. Sie hatten offenbar Salate bestellt, ein kleiner Brotkorb aus Filz stand auf ihrem Tisch. Beide saßen relativ locker auf ihren Stühlen, jeder somit gut einen Meter Luftlinie von dem Brotkorb entfernt.

Das genügte einer Möwe. Im Sturzflug schoss sie quer über den Außenbereich des Restaurants hinweg, knapp über die Köpfe anderer Besucher hinweg; dann griff sie mit dem Schnabel zu und schwang sich in die Höhe, den Brotkorb mit komplettem Inhalt mit sich führend. Direkt vor dem »alten Markt« ließ sie ihn fallen, das Brot fiel heraus, und noch während ich – wie alle anderen – verblüfft und fasziniert zugleich diesem Husarenstück zuschaute, tummelten sich auf einmal mehrere Möwen und zerrissen das Brot in mund- und schnabelgerechte Stücke.

Ich grinste noch Stunden später über den Sturzflug der Möwe und die überraschten Gesichter der anderen Gäste. Étretat im Sommer 2017: Wenn man genau hinschaute, hatte man ein kleines Abenteuer direkt vor der Nase.

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